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Sterneküche und Nachhaltigkeit

„Ein Menü erzählt eine Geschichte“

Die 100/200 Kitchen feiert in diesem Jahr fünfjähriges Jubiläum. Inhaberin Sophie Lehmann spricht im Interview darüber, was ihr Restaurant besonders macht, was sich in den letzten Jahren getan hat und warum sie eine Gedeckpauschale eingeführt haben

1. November 2023

Sophie Lehmann ist Inhaberin der 100/200 Kitchen / ©Johanna Zobel
Sophie Lehmann ist Inhaberin der 100/200 Kitchen / ©Johanna Zobel

Sophie, kürzlich wurden die Rolling Pin Awards verliehen. Du hast den vierten Platz bei den besten Sommeliers belegt, dein Geschäftspartner Thomas Imbusch den elften Platz bei den Best Chefs. Was ist das für ein Gefühl?

Sophie Lehmann: Eine große Freude. Das Schöne daran ist, der Preis ist von Kollegen gewählt und nominiert. Bei den Köchen ist Platz elf von 100 schon ziemlich schön, weil wir ein doch sehr anderes Konzept haben. Die Sommelier-Auszeichnung ist noch relativ neu – ich glaube, das ist jetzt das dritte Mal gewesen. In so kurzer Zeit mit einem durchaus besonderen Wein-Konzept so eine Wertschätzung zu erfahren, das ist schon besonders schön.

Was zeichnet euer Wein-Konzept aus?

Wir glauben nicht so ganz daran, dass man überall immer die gleichen Weine trinken soll, kann oder muss. Wir versuchen für jede Saison eine eigenständige Handschrift zu geben und Dinge auszusuchen, die mit unserem Essen spielen und die Geschmackswelt vervollständigen.

Ihr feiert dieses Jahr euer fünfjähriges Jubiläum. Was hat sich in den Jahren getan?

Ich glaube, wir sind in vielen Bereichen erwachsen geworden: Unternehmer sein und Arbeitgeber sein – das ist nichts, was man einfach so macht, wenn man eine Firma gründet. Da muss man viel an sich arbeiten, sich viel Zeit nehmen für das Thema Chef sein und sich viele Fehler eingestehen. Auch unser Konzept hat sich geschärft. Und wir haben eine eigene Akademie gegründet.

Beim Konzept unterscheidet ihr euch von manch anderen Restaurants: Wer ein Menü essen möchte, braucht im Vorfeld ein Ticket. Warum?

Das hat zum einen mit Planbarkeit zu tun: beim Personal und Wareneinsatz. Wir möchten ungern verschwenden, weder die menschliche noch die kulinarische Ressource. Es hat auch damit zu tun, dass in Deutschland die Wertschätzung für die Gastronomie noch nicht ganz so gegeben ist, wie es sein sollte. Es wird nicht verstanden, dass es eine gewisse Verbindlichkeit gibt, wenn man reserviert. Plätze, die reserviert sind, müssen einen gewissen Umsatz bringen. Ansonsten kann die Gastronomie langsam aber sicher nicht mehr kalkulieren und am Leben bleiben. Da wir neu gegründet haben, war es natürlich ein mutiger, aber auch total logischer Schritt.

In eurem Restaurant habt ihr eine offene Küche mit einem besonderen Herd. Was hat es damit auf sich?

Das ist ein Molteni 8777, eine Sonderanfertigung. Molteni ist ursprünglich eine italienische Firma, die sitzen jetzt in Lyon, Frankreich. Der Herd ist das Herzstück des Raumes. Er wurde für Thomas exklusiv angefertigt. Es ist die einzige Küche, die wir haben – man sieht alles, was hier passiert. Es gibt kein Versteck und kein Back-Office, wo man ein bisschen schludern oder seine Emotionen unangemessen rauslassen kann. Alles, was im 100/200 passiert, passiert wirklich. Das hier ist keine Showküche, es ist eine richtige, echte Küche.

Je einfacher es ist, desto beeindruckender und emotionaler kann es sein.

Sophie Lehmann

Euer Motto lautet: „In der Einfachheit steckt die Komplexität“. Was meint ihr damit?

Man kann viel Chichi machen und am Ende ist auf dem Teller aber gar nicht so viel los. Was uns mehr interessiert, ist der wirkliche Geschmack des Ganzen. Uns geht es um das Lebensmittel als solches. Je weniger du zum Kaschieren hast, desto präziser muss es sein. Das ist unglaublich herausfordernd und komplex. Aber je einfacher es ist, desto beeindruckender und emotionaler kann es sein.

Und dann wird „gegessen, was auf den Tisch kommt“. Wie setzt ihr das um?

Indem wir unseren Gästen vorher sagen: „Ihr kommt, ihr kennt das Thema und ihr esst Carte blanche. Ihr lasst euch ein, auf das, was kommt.“ Hört sich im ersten Moment dogmatisch an. Hat aber den einfachen Grund, dass wir glauben, dass die Erzeuger eigentlich wissen, was am besten ist. Wenn der Bauer sagt, es gibt gerade viele Tomaten, dann ist unsere Aufgabe als Köche und Gastgeber, das in Perfektion zu verarbeiten – so, dass du als Gast Lust hast, es zu essen. Das kann man nicht, wenn man auf jeden Wunsch eingeht. Bei uns ist es so: Die Erzeuger liefern, wir verarbeiten, der Gast isst. Außerdem finden wir: Ein Menü ist keine wahllose Aneinanderreihung von Gängen, sondern erzählt eine Geschichte. Und wir sind die Menschen, die ihre Geschichte erzählen, das ist unsere Profession und deswegen kommt man zu uns.

Ihr tragt zwei Sterne und einen Grünen Stern des Guide Michelin. Wie kann man Nachhaltigkeit und Sterneküche vereinen?

Einerseits müsste man davon ausgehen, dass die High-End-Gastronomie sowieso nur mit den besten Lebensmitteln arbeitet. Aber zu Nachhaltigkeit gehören auch eine soziale Nachhaltigkeit und eine Nachhaltigkeit, die auch von Strom, Ausstattung, Preisgefüge und Gästemanagement ausgeht. Und dann kommt zusätzlich die Frage: „Willst du das Produkt auf dem Tisch haben, von dem jeder glaubt, du brauchst es oder hast du den Mut, auch Lebensmittel zu verarbeiten, die eigentlich unpopulär sind?“ Das führt dann auch dazu, dass manche Rezepte nicht mehr so funktionieren, wie man es sich erarbeitet hat. Das sind die Themen, die Nachhaltigkeit schwierig machen. In der Sternegastronomie ist das vielleicht noch herausfordernder, weil man eine höhere Reproduzierbarkeit haben muss. Alles andere ist wie in jedem anderen Restaurant auch. Man muss entscheiden: Macht man sich den Mehraufwand und geht man ein Risiko ein, auch wenn es vielleicht nicht verstanden und wertgeschätzt wird.

Neben eurem Menü kann man bei euch auch seit Kurzem à la Carte essen. Dabei erhebt ihr eine Gedeckpauschale von 35 Euro. Was bedeutet das?

Der Grundgedanke dahinter ist: Wir preisen etwas, das normalerweise mit einkalkuliert wird,
separat aus. Für uns ist das eine Frage der Wertschätzung unserem eigenen Handwerk gegenüber. Dieses herausragende Brot, die Butterzubereitung, Wasser, Service, Ambiente – das alles hat einen Preis. Den möchten wir offen kommunizieren und in Rechnung stellen. Danach kann der Gast konsumieren, was er will und bleiben so lange er möchte. Am Ende können wir wirtschaftlich sein und unseren Gästen das beste Erlebnis kreieren.

Warum liegt die Pauschale bei 35 Euro?

Wir sind keine Zufallsgastronomen. Bei uns ist alles, was passiert, durchdacht und kalkuliert. Die 35 Euro sind das, was der Gast mindestens ausgeben muss, damit wir ihm eine tolle Zeit bereiten können.

Wie reagieren eure Gäste darauf?

Unsere Gäste reagieren mit absolutem Verständnis – gerade die, die schon mal da waren. Wer Esskultur schätzt, weiß, dass die Preise in der deutschen Gastronomie im internationalen Vergleich niedrig sind und schätzt eine nachvollziehbare Kalkulation für die entsprechende Qualität. Nach der reißerischen Berichterstattung der vergangenen Tage gibt es jetzt aber den einen oder anderen, der sagt: „Dann komme ich nicht zu euch.“ In den meisten Fällen sind das aber gar nicht die Menschen, die sonst zu uns kommen würden.

Portrait von Johanna Zobel

Johanna Zobel ist immer für ein ausgiebiges Abendessen mit Freunden in gemütlichen Restaurants zu haben. Ein perfekter Abend endet für sie mit einem Absacker in einer typischen Hamburger Eckkneipe.

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