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Pfandsammeln

„Wo die Leute am wenigsten Geld haben, sind die meisten Flaschen“

Mehr als eine Million Menschen sammeln in Deutschland Pfandflaschen. Zu ihnen gehört auch Kim. Über ihren Alltag, den Wandel beim Pfandsammeln und was sich in Hamburg ändern könnte

13. Dezember 2022

Kim sammelt seit knapp 20 Jahren Pfandflaschen / ©Johanna Zobel
Kim sammelt seit knapp 20 Jahren Pfandflaschen / ©Johanna Zobel

Eine Frau mit roter Mütze, blauer Fleecejacke und Ikea-Tüte blickt in einen der für Hamburg charakteristischen roten Mülleimer und zieht eine zerdrückte Dose heraus. „Die ist ohne Pfand“, erkennt sie nach einem prüfenden Blick. Kim hat ein geschultes Auge, sie sammelt seit fast 20 Jahren Pfandflaschen. Anfangs, um sich etwas dazuzuverdienen. „Ich habe gemerkt, das bringt ein bisschen mehr Geld. Dann hab ich mir ein Auto gekauft und noch ein Auto“, sagt sie schmunzelnd. Heute ist Kim 63 Jahre alt und finanziert sich ihren Lebensunterhalt vom Sammeln der Pfandflaschen. Derzeit wohnt sie bei einem Bekannten in Wilhelmsburg. Mehrmals die Woche fährt sie in die Hamburger Innenstadt zum Sammeln – oft das Ziel: der Hauptbahnhof.

Auch an diesem Freitagmittag, Anfang Dezember, hat es sie an die Nordseite des Hauptbahnhofs verschlagen. Am Heidi-Kabel-Platz, direkt vor dem Ohnsorg-Theater, befindet sich der „Hamburger Gabenzaun“. Hier verteilen Helferinnen und Helfer des gemeinnützigen Vereins regelmäßig warme Getränke, Essen und Kleidung. „Hier begegnet man sich auf Augenhöhe“, sagt Gerardo, der sich seit rund drei Jahren beim „Hamburger Gabenzaun“ engagiert. Man begrüße sich, schaue sich in die Augen. „Das ist auch der Grund, warum ich hierherkomme“, sagt Kim. Sie habe allerdings einen Wandel beim Pfandsammeln festgestellt: „Früher war es anders. Mit den Leuten heute hab ich nix mehr zu tun. Das sind überwiegend ‚Importer‘ (Anm. d. Red.: Menschen aus dem Ausland), man kennt die Leute gar nicht oder nur vom Sehen und das war’s.“ Seit fünf bis zehn Jahren sieht Kim zudem vermehrt Rentner auf der Straße: „Teilweise sind es auch Leute, von denen du das nicht denkst. Die laufen ganz normal rum. Das erste Mal hab ich solche Augen gekriegt.“ Kim gestikuliert, erzählt weiter: „Da war eine Oma, gut angezogen. Ich denke, die kommt ausm Theater. Nee, da kiekt die in den Mülleimer, du!“

Tatsächlich gibt es immer mehr Menschen, die auf das Sammeln von Pfandflachen angewiesen sind. Laut der im Oktober 2022 erschienenen Studie von der Initiative „Pfand gehört daneben“ würden über eine Million Menschen in Deutschland Pfand sammeln. Das seien 50.000 mehr als im Vorjahr. Knapp die Hälfte, 46 Prozent, gibt an, dass die gestiegenen Lebensunterhaltungskosten Grund dafür seien. 62 Prozent üben einen Beruf aus und sammeln zusätzlich Pfand. Die Studie wurde zum zweiten Mal durchgeführt, die erste erschien im Januar 2022. Zuvor habe es keine Zahlen und Untersuchen zu Pfandsammlern in Deutschland gegeben, sagt Pascal Fromme, Leiter von „Pfand gehört daneben“. Dabei sei es „wichtig, dass wir eine Stimme für eine Personengruppe von Menschen sind, die oftmals unter dem Radar laufen“, betont Pascal. Ziel von „Pfand gehört daneben“ sei es, Menschen dafür zu sensibilisieren, Flaschen neben den Mülleimer zu stellen, sofern sie sie nicht zurückbringen können. Dadurch verringert sich das Risiko der Sammlerinnen und Sammler, sich an Spritzen, Scherben oder anderen scharfen Gegenständen im Mülleimer zu verletzen. Knapp ein Drittel der Befragten aus der ersten Studie gaben an, sich schon mal beim Greifen in den Mülleimer verletzt zu haben. „Ein Pfandsammler hatte dadurch fast eine Blutvergiftung bekommen“, erinnert sich Pascal. Auch Kim hat sich schon verletzt: „Ich habe mich mal ein bisschen an einem Glas geschnitten. Früher habe ich immer mit einer Taschenlampe in den Mülleimer reingeleuchtet. Gerade wenn du hier am Hauptbahnhof bist oder auf St. Pauli, ist das wichtig.“

Beugt Verletzungen vor: Pfandflaschen neben den Mülleimer stellen / ©Johanna Zobel
Beugt Verletzungen vor: Pfandflaschen neben den Mülleimer stellen / ©Johanna Zobel

Heute, zehn Jahre nach Gründung von „Pfand gehört daneben“, sei es gelernt, dass Menschen ihre Pfandflaschen neben den Mülleimer stellen. „Früher haben wir oft noch gehört, dass Menschen ein Strafgeld zahlen mussten, weil sie Pfandflaschen daneben stellten. Offiziell kann es als Ordnungswidrigkeit ausgelegt werden, wird inzwischen aber geduldet“, sagt Pascal. Nach dem Bußgeldkatalog wäre eine Strafe zwischen 75 und 300 Euro beim falschen Entsorgen von „Gegenständen mit scharfen Kanten, ätzenden und/oder schneidenden Eigenschaften (etwa Glasscherben oder -flaschen, rostige Nägel, Eisen- und Blechreste)“ fällig. Auch das Sammeln von Pfandflaschen sei teilweise verboten, so Pascal. Trotzdem macht „Pfand gehört daneben“ auf die Situation aufmerksam. Die Initiative, die als Facebook-Gruppe begann, gehört heute zum Hamburger Unternehmen fritz-kola. Der Brausehersteller hat die Studie in Auftrag gegeben und kennzeichnet seine Flaschen seit 2015 mit der Kennzeichnung „Pfand gehört daneben“. „Wir waren auch mit der Stadtreinigung im Austausch, um zu erwirken, dass unser Logo als Sticker auf die Mülleimer geklebt wird. Das wäre ein wichtiges Signal“, erzählt Pascal. Auch sogenannte Pfandringe – an den Mülleimer angebrachte Halterungen für Pfandflaschen – würde sich die Initiative wünschen.

Besonders im Winter ist Pfandsammeln anstrengend. „Vor allem die Feuchtigkeit ist ein großes Problem“, weiß Kim. Die Gefahr, sich zu erkälten, sei besonders groß, und sie habe keine Krankenversicherung. In Hamburg kennt sie sich aus und weiß: „Wo die Leute am wenigsten Geld haben, sind die meisten Flaschen.“ Trotzdem meidet sie manche Ecken – vor allem, wenn sie als Frau alleine unterwegs ist. „Als Frau ist man Mensch zweiter Klasse. Denk an den Orient oder hier an das Lohnsystem!“, sagt Kim. Früher hat sie verschiedene Jobs ausgeübt, war etwa Taxi-Fahrerin oder hat in einer Pizzeria gearbeitet. Ein paar falsche Entscheidungen und Schicksalsschläge brachten sie in ihre heutige Situation. Mit ihrem Lebensgefährten, den sie „Dicker“ nennt, wohnt sie nicht zusammen, er habe gesundheitliche Probleme. Spitznamen scheinen wichtig zu sein. Kim wird „Eule“ genannt, weil sie sehr nachtaktiv ist, einen Freund nennt sie „Omi“, weil er seine Mütze immer so „blöd“ trage. Sich selbst nicht so ernst zu nehmen und eine gute Portion Humor scheinen das Geheimrezept von Kim zu sein, um mit den Härten des Lebens zurechtzukommen. Wünsche hat sie aber dennoch: „Mehr Frieden, Ruhe und Möwen, die finde ich schön – die liebe ich.“ Auch kulinarisch weicht sie gern mal von der Norm ab. Ihr Lieblingsgericht: Zwiebeln mit Nutella. „Als nächstes probiere ich Knoblauch mit Himbeermarmelade“, sagt Kim lachend. Auch das will finanziert sein. Mit ihrem halb gefüllten Beutel zieht sie weiter, immer auf der Jagd nach der nächsten Pfandflasche.

Portrait von Johanna Zobel

Johanna Zobel ist immer für ein ausgiebiges Abendessen mit Freunden in gemütlichen Restaurants zu haben. Ein perfekter Abend endet für sie mit einem Absacker in einer typischen Hamburger Eckkneipe.

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